Tod einer Richterin

Warum Ruth Bader Ginsburgs Tod gewaltige Auswirkungen auf das Land und die Wahlen 2020 haben könnte

Es scheint, als käme das politische Amerika aus dem Trauern gar nicht heraus. Erst John McCain, im August 2018. Dann George H. W. Bush, im November 2018; Elijah Cummings ein knappes Jahr später und Bürgerrechtsikone John Lewis im Juli 2020. Nun also Ruth Bader Ginsburg. 87 Jahre alt, schon zehn Jahre verwitwet, Siegerin in zwei vorigen Auseinandersetzungen mit dem Krebs. Die vorigen prominenten Todesfälle hatten die Scheinwerfer auf das gespaltene, zerrissene Amerika gerichtet – unvergessen die Szene, als sich die gesamte politische Prominenz des Landes zur Trauerfeier für John McCain einfand und der nicht eingeladene Trump währenddessen Golf spielen ging. Der Tod der Richterin am Supreme Court aber wirft keine Schlaglichter, sondern tiefe Schatten auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen und die Richtung, in die das Land steuert.

Machtzentrale 1 First Street

Die scheinbar allumfassende Macht des US-Präsidenten wirkt vor allem nach außen. Im Inneren dagegen sorgen das Zweiparteiensystem und die Tatsache, dass diese beiden Parteien immer weniger zu Zusammenarbeit oder Kompromissfindung in der Lage sind, seit Jahren dafür, dass alle wichtigen Fragen früher oder später beim Supreme Court landen. Der Oberste Gerichtshof der USA wird nicht direkt angerufen, sondern er greift – mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken – dann ein, wenn das Land dringend eine richtungsweisende Entscheidung braucht. Das generelle Recht auf Abtreibung, die Aufhebung der Rassentrennung oder erst vor Kurzem die Möglichkeit der Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare sind einige der umwälzenden, Gesellschaften verändernden Entscheidungen, die der Supreme Court unanfechtbar getroffen hat, weil die Politik diese Themen nicht in Gesetze gießen konnte. Dieses letzte Wort zu den grundlegenden Fragen, diese beinahe uneingeschränkte Macht des Supreme Courts führt dazu, dass eine Neubesetzung eine der wichtigsten politischen Entscheidungen überhaupt ist. Keine politische Errungenschaft, wie Donald Trump es darzustellen pflegt, sondern vielmehr eine Notwendigkeit, deren Umsetzung präsidentielle Ansichten auf Jahre hinaus zementieren kann. Immerhin werden die Richterinnen und Richter dort auf Lebenszeit berufen. Das Vorschlagsrecht liegt beim Präsidenten und der Senat prüft diese Nominierung und bestätigt sie oder lehnt sie ab. Eigentlich ein zutiefst demokratisches Verfahren also, wenn die amerikanische Demokratie nicht in den letzten Jahren völlig aus den Angeln gehoben worden wäre.

Der Vorlauf: Garland, Gorsuch, Kavanaugh

Im Februar 2016 starb Antonin Scalia. Als ein von Ronald Reagan ausgesuchter Richter galt Scalia als streng konservativ und für Barack Obama ergab sich die Gelegenheit, den Supreme Court mit seiner Wahl eines Nachfolgers etwas mehr in die progressive Richtung zu rücken. Genau genommen sogar mehr als nur etwas. Denn mit dem Tod Scalias standen die Stimmenverhältnisse zwischen den acht verbliebenen Richtern bei vier zu vier zwischen konservativen und liberalen Köpfen am Supreme Court. Obama jedoch blieb es verwehrt, die Ausrichtung des Gerichts im Sinne der Demokraten zu verändern. Er nominierte mit Merrick Garland zwar einen mehrheitsfähigen, hochangesehenen Richter als Nachfolger, doch Obamas Pech war, dass im Senat zu diesem Zeitpunkt mehr Republikaner als Demokraten saßen. Diese lehnten Garland nicht etwa ab, vielmehr verweigerten sie dem Nominierten gleich, überhaupt eine Anhörung zu bekommen. In einem Wahljahr gehöre sich das nicht, beschieden die Republikaner unter Mehrheitsführer Mitch McConnell den wütend protestierenden Demokraten. Die Wähler sollten erst über einen neuen Präsidenten und dieser dann über einen neuen Richter entscheiden, so war die Begründung für die eiskalte Ablehnung. Die Wahl, die schließlich Donald Trump ins Amt spülen sollte, war da noch mehr als acht Monate entfernt. Und mit Trump kam die Berufung von Neil Gorsuch, der den eigentlich für Garland reservierten Sitz im April einnahm.

Dass dann im Juli 2018 Richter Anthony Kennedy zurücktreten würde, hätte kaum jemand gedacht. Dass es ausgerechnet Donald Trump, dem wohl am wenigsten auf republikanische Ideale eingeschworenen republikanischen Präsidenten aller Zeiten, zustehen würde, sogar noch einen zweiten konservativen Richter zu berufen, wurde schnell zur Fußnote angesichts des unwürdigen Schauspiels, das sich in Folge seiner Berufung von Brett Kavanaugh abspielte. Inmitten eines gewaltigen Medienschauspiels und immer schriller werdenden gegenseitigen Vorwürfen wurde Kavanaugh schließlich bestätigt, wobei die republikanischen Senatoren weder die glaubhaft vorgetragenen Vorwürfe des schweren sexuellen Missbrauchs gegen den Kandidaten beachten mochten, noch die aggressiven, von Verschwörungstheorien durchzogenen Tiraden, die der Kandidat während seiner Anhörung ins Mikrofon brüllte.



Der letzte Wunsch der Richterin

Keiner der amtierenden Richter am Supreme Court hatten sich öffentlich zum Theater um Kavanaughs Berufung geäußert, auch Ruth Bader Ginsburg nicht. Die Würde des Amtes verbietet so etwas. Bader Ginsburg sah nach den überstandenen Krebserkrankungen außerordentlich zierlich und gebrechlich aus, aber in ihr steckte eine zähe und methodische Kämpferin, die sich in vielen Dingen nicht mit dem Status Quo zufriedengeben mochte. So brachte sie zum Beispiel Schritt für Schritt die Frauenrechte und den Kampf gegen Ungleichbehandlungen voran. Und so wurde sie zur Ikone der progressiven Rechtsprechung in den USA, ohne dass sie diese Rolle je für sich beansprucht hätte. Als Ruth Bader Ginsburg Präsident Obama bei dessen letzter Rede zur Lage der Nation im Januar 2016 fest umarmte, da konnte man ahnen, wie sehr sie fürchtete, dass Obamas Nachfolger versuchen würde, die liberalen Markierungspunkte, die Obama gesetzt hatte, wieder einzureißen und genauso kam es ja dann auch. „Es ist mein dringlichster Wunsch, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident gewählt ist“, diktierte sie ihrer Enkelin zwei Tage vor ihrem Tod in den Notizblock. Als Ruth Bader Ginsburg starb, hatten die ersten Wählerinnen und Wähler in Virginia bereits beim Early Voting ihre Stimmen für die Präsidentschaftswahl abgegeben. Nach der Bekanntgabe ihres Tods dauerte es etwa eine Stunde, bis führende Republikaner klarstellten, dass Trump selbstverständlich umgehend einen Kandidaten nominieren würde und dass der Senat, noch immer überwiegend in republikanischer Hand, über diesen ebenso selbstverständlich auch umgehend abstimmen würde.

Eine schlechtere Nachricht hätte Joe Biden nicht bekommen können

Natürlich war klar, dass Trump sich nicht lange mit moralischen Überlegungen aufhalten würde. Obwohl er die freie Richterstelle auch als Karotte vor die Nase konservativer Wähler hätte hängen können, muss die Versuchung, in nur einer Amtszeit gleich drei Stellen am Supreme Court zu besetzen, unwiderstehlich gewesen sein. Möglich aber unwahrscheinlich ist noch, dass mehr als drei der republikanischen Senatoren sich an ihre Haltung bei der Nominierung von Merrick Garland erinnern und eine Nominierung vor der Wahl immer noch als falsch ansehen. Das würde bedeuten, dass Trumps Kandidatin im Senat scheitern würde, was wiederum kurz vor der Wahl eine schwere Schlappe für ihn wäre. Schnell zirkulierten am Tag nach Ruth Bader Ginsburgs Tod Videos, die republikanische Senatoren wie Lindsey Graham oder Ted Cruz bei der Abgabe von Versprechungen zeigten, dass die Verweigerung einer Bestätigung Garlands damals selbstverständlich auch der Standard für ähnliche Fälle in der Zukunft sein würde. Und ebenso schnell präsentierten die so Gezeigten säuberlich konstruierte, aber sehr windschiefe Erklärungen dafür, dass sie das Geschwätz von gestern heute nicht mehr kümmert. Wie dem auch sei: Die Besetzung einer weiteren Stelle am Supreme Court mit einer konservativen Richterin wird die Grundhaltung des Gerichts über Jahre, möglicherweise Jahrzehnte, nach rechts rücken und das ist für potentielle Wähler der Republikaner ein echtes Lockmittel, auch wenn der Präsident dazu nun wirklich nichts beigetragen hat. Und es hilft Trump ungemein dabei, von seinem katastrophalen Versagen in der Corona-Krise abzulenken, von seinen Schmähungen des Militärs und von der Tatsache, dass die Millionen Arbeitslosen das versprochene zweite Hilfspaket immer noch nicht erhalten haben. Der Verlierer dabei heißt Joe Biden, der in der aufgeheizten Atmosphäre der USA im Jahr 2020 mit seinem zurückhaltenden Auftritten ins Hintertreffen zu geraten droht. Zwar haben seine Anhänger in den Stunden nach der Bekanntgabe des Tods von Ruth Bader Ginsburg viele Millionen an Wahlkampfhilfe gespendet, neue Rekorde wurden gleich serienweise aufgestellt. Doch alles das wird nicht ausreichen gegen die gewaltigen Veränderungen, die der unzeitgemäße Sterbefall mit sich bringen könnte.

Die anstehenden Aufgaben für den Supreme Court

Die vergangenen knapp vier Jahre Trump-Herrschaft haben dem amerikanischen Justizsystem bereits eine Menge Arbeit beschert. Das lag vor allem daran, dass Trump noch nie viel davon gehalten hat, auf juristische Feinheiten Rücksicht zu nehmen, wie er etwa beim eilig verkündeten und vorher nicht durchdachten Einreisestopp für Angehörige bestimmter muslimischer Staaten demonstrierte. In naher Zukunft dürfte vor allem das Wahlrecht zum wichtigsten Punkt auf der Agenda des Obersten Gerichts werden. Zu intensiv streut Trump seit Monaten bereits Negatives über die Briefwahl und zu offensichtlich war sein Versuch, die US-Post zum Zwecke der Briefwahl-Verhinderung lahmzulegen, als dass man davon ausgehen könnte, er würde eine Niederlage einfach akzeptieren. Schon jetzt hat Trump seinen Anhängern den Gedanken in die Köpfe gepflanzt, dass es am Wahlabend kein Ergebnis geben könne. Bei jedem anderen Ergebnis als einem Erdrutsch-Sieg Bidens ist das Anrufen der Gerichte gewissermaßen vorprogrammiert, denn es gibt einfach zu viele Fragen rund um das Wahlrecht, die in diesem ganz besonderen Jahr 2020 nicht ganz bis ins Kleinste geklärt sind. Doch was, wenn sie auch vom Supreme Court nicht beantwortet werden können? Wenn dieser sich wegen eines fehlenden neunten Richters nicht auf einen Spruch einigen kann? Das Potenzial für unkontrollierte Zustände ist in einem extrem polarisierten Land mit freier Verfügbarkeit von Waffen stets gegeben. Eine Ruth Bader Ginsburg hätte die unguten Entwicklungen in den USA nicht alleine aufhalten können, aber ihre Stimme der Vernunft wäre so wichtig. Dass der letzte Wunsch einer so verdienten Frau nie auch nur ansatzweise gewürdigt worden ist, spricht Bände über das Bild, das die USA gerade abgeben.